Ich muss mir jetzt mal was von der Seele reden. Wenn es auf keinen großen Anklang stößt (Boulevardthemen sind hier ja in der Minderheit, evtl. zurecht) dann richte ich in so einem kleinen Forum schon keinen großen Schaden an, aber es muss raus, ich kapier die Welt nicht mehr.
Nun, der Fall ist bekannt. Mit 10 Jahren entführt, acht Jahre Gefangenschaft (Isolation, Hunger, Arbeit, Krankheit, Psychoterror), Flucht, Medienrummel, Interview, noch mehr Medienrummel, Verschwörung.
Frau Kampusch ist gerade mal keine zwei Wochen jünger als ich. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was ich im Jahr '98 gemacht habe. Acht Jahre sind eine unvorstellbar lange Zeit, '98 war ich noch ein unmündiges Kind, heute mache ich die Autobahn unsicher.
Die Story an sich bewegte mich genauso wie alle anderen Schlagzeilen. Aha. Gelesen. Weg.
Am Mittwoch aber habe ich mich nach anstrengender Schichtarbeit müde vor den Fernseher gesetzt um mich noch etwas berieseln zu lassen. Die Deutsche Mannschaft führte bereits 4:0 gegen die San Marinesen, als ich zu RTL zappte und das Interview mit Frau Kampusch meine Aufmerksamkeit erregte. Eine unglaublich souveräne, toughe, intelligente, hübsche, witzige, charmante junge (und was es sonst noch an positiven Konnotationen passt) Frau schildert ihr jämmerliches Schicksal.
Ich zappte zwar noch ein paar Mal zwischen Fußball und Interview hin und her, aber ich konnte diese starke Persönlichkeit nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Weniger die grausige Geschichte die im Voyeurismusofen der Medien fröhlich vor sich hin gart und stündlich um immer mehr Vermutungen, Halbwahrheiten und Gedankenmüll Unbeteiligter ergänzt wird, sondern die Person an sich hat mich stark fasziniert.
Nun liest man ab und dann auch auf unterschiedlichen Newsseiten (faz, welt, spiegel, zeit, sz, dieverse blogs bis hin zu krone, ö24 und standard) die Kommentare von einigen Zuschauern (u.a. zu diesem Interview).
Und diese sind eigentlich der Grund, warum ich diesen Thread eröffne. Ist es ein gesellschaftliches Phänomen, dass in manchen Kommentarspalten die Zahl von Usern mit der Meinung,
- dass das ja alles nur inszeniert sei, dass sie (Fr. Kampusch) nur von zuhause fliehen wollte, dass sie doch viel früher hätte fliehen können, sie ihn geliebt häte, doch alles nicht so schlimm wäre, böße Verschwörung, nur des Geldes wegen, auch noch eigenes Spendenkonto, Sauerrei, geht nicht mit rechten Dingen zu, usw. -
höher ist, als die Anzahl von Usern mit einem normalen Bezug zur Realität.
Woher kommt dieses hohe Maß an gebündeltem Neid, Missgunst, Boshaftigkeit, Realitätsverlust, Zweifel an allen Fakten, Verschörungsparanoia und co?
Ist das ein gesellschaftlicher Trend? Warum manifestiert sich das in dieser Intensität gerade an diesem Fall? Die Verschwörungstheorien zum 11. September sind ja ein Witz dagegen.
Ist Frau Kampusch Täter oder Opfer?
Die Feullietons sind voll von Diskussionen über den Umgang der Medien mit diesem Fall. Das ist hier garnicht mein Problem. Klar wird alles hochgepusht um Kohle zu machen. Die Mechanismen des Marktes und einer deregulierten Boulevardökonomie. Das ist bekannt und abgehakt.
Mich aber interessiert die Masse an Leuten, die sich so einen (für Fr. Kampusch) sicher sehr verletzenden Quark ausdenken.
Leute, die an ein Verbrechensopfer Interviewanforderungen wie an einen Spitzenpolitiker stellen. Uhh, die Fragen sind ja abgesprochen, ahh, das ist ja geschnitten, ehh, die hat was auswendig gelernt, ohh, so fertig ist die ja garnicht, war bestimmt im Wellness-Hotel.
Bin ich verrückt, oder sind die es?