Fr, 24. Jan 2003, 12:10
Das klügste, was in letzter Zeit zu dem Thema geschrieben wurde, steht im aktuellen SPIEGEL und stammt von John LeCarré. Aber eigentlich geht's in diesem thread ja um "1984", und ich glaube nicht, daß der gegenwärtige Händel mit dem Irak ein gutes Beispiel ist.
"1984" dreht sich um die Natur des Totalitarismus. Im Zuge des 11. September sind speziell in den USA eine Menge Bürgerrechte geschliffen worden, und auch Otto Schily marschiert ja vorneweg, wenn es um mehr Überwachung von allem und jedermann geht. Speziell allgegenwärtige Videoüberwachung erfreut sich ja trotz nachweislicher Wirkungslosigkeit immer größerer Beliebtheit, ironischerweise ja sogar bei der überwachten Bevölkerung.
Das Mißbrauchspotential, daß in diesen Überwachungstechnologien enthalten ist, übertrifft Orwell's Visionen bei weitem - wenn auch "Staatsfeind Nr. 1" auf seine übertriebene Art und sehr amerikanische Fokussierung auf Techno-Gadgets und Action eher von den eigentlichen Problemen ablenkt.
Was mich besorgt ist, daß es im Grunde nur eine einzige Zeitschrift gibt, die kontinuierlich über diese Fragen der Gegenwart berichtet - und das ist die c't. Leider als weitgehend unbeachteter einsamer Rufer, gelegentlich greif der SPIEGEL auch mal was auf, aber es ist schon klar erkennbar, daß der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Redakteure die technische Kompetenz abgeht, eine klare Bewertung der technischen Entwicklung zu treffen.
Das eigentliche Problem ist zur Zeit nicht die staatliche Überwachung, sie ist glücklicherweise noch recht ineffizient. Das Problem ist die allgegenwärtige Durchdringung der Privatsphäre von jedem, der sich im öffentlichen Raum bewegt durch die Vielzahl von Videokameras, die von privat installiert werden, und die permanente Überwachung jeder Transaktion im Internet, sowie das Tracking von Bewegungen anhand der Mobilfunkdaten.
Sobald die Überwachungsbehörden ihr Ziel der Einbeziehung und Vernetzung all dieser unabhängigen Quellen erreicht haben, können sie jedermann jederzeit nahezu vollständig in seinem Lebensrythmus und in seinen Meinungsäußerungen überwachen und profilieren. Das eigentliche Abhören von Telefonaten, eMails, Briefen, ist dann in seiner Bedeutung gar nicht mehr so groß. Es wäre beispielsweise denkbar, eine Software zu schreiben, die ein Abweichen von etablierten Lebensgewohnheiten meldet.
Solange die "Sicherheits"-Behörden der Bevölkerung wohlgesonnen bleiben, wird sich das in der Praxis womöglich nicht als so problematisch zeigen, wie es ist. Denn das eigentliche Problem ist ja, daß man auf das Wohlwollen der staatlichen Gewalt angewiesen ist - und das ist etwas, was dem demokratischen Prinzip vollkommen entgegenläuft. Auch eine wohlwollende Diktatur ist immer noch eine Diktatur, und jegliches totalitäre System ist zwangsläufig disponiert, in Richtung gewaltsamer Unterdrückung abzudriften.
Übrigens: Wer sich für "1984" interessiert, kommt an "Brazil" von Terry Gilliams nicht vorbei. Sobald wir im Film-Thread auf die 80er kommen, muß der mit in meine Liste...